Dienstag, 31. Oktober 2006

Bis zum Arendsee

Ich kam bis zum Arendsee.

Dort verfinsterte sich der Himmel, ein Brausen erhob sich, ein Geschrei, das ich meinen Begleiter nicht mehr hätte verstehen können, wenn er mir ins Ohr gerufen hätte - und wäre ich nicht allein gewesen.

Über den Baumkronen hinter dem Waldrand hervor schob sich ein gigantischer Kranichschwarm wie eine schwarze Walze. Hunderte Flügel rauschen wie ein Orkan, Tausende Rufe bringen die Luft zum Zittern.

Den ganzen Nachmittag flogen die Kranichsche an und landeten auf den Wiesen in der Nähe des Wassers, ununterbrochen, gleichzeitig zehn, zwanzig kleine Schwärme, Einsen, die sich auflösten, oder gigantische, ungeordnete mit Hunderten von Tieren. Auch nach Sonnenuntergang hörte es nicht auf, und noch während der Nacht waren ihre Rufe hinter den Bäumen zu hören.

Einer glitt auf dem Wasser durch das Schilf, nah am Ufer, dort wo ich saß, keine zwei Meter von mir entfernt: Stolzer als ein Schwan hielt er sich im Silberkleid mit königlicher Haube auf dem Hinterkopf.

Ich saß dort viele Stunden bis nach Sonnenuntergang wie versteinert, ganz Auge, Ohr und Hauthärchen, mit denen ich das Vibrieren der Luft erspürte, das Flügelrauschen und Rufen hörte und Bewegungen, Haltungen und Farben zusah.

Die Kraniche hatten einen Bannkreis um mich gezogen, den ich nicht verlassen konnte. Ich kam nicht nach Berlin.

Montag, 23. Oktober 2006

Es ist einfach:

Du schließt sämtliche Fenster, die dich mit der Welt verbinden.
Du schaltest den Computer aus.
Du stehst auf, du nimmst das Tagebuch, den Füller, die Zahnbürste.
Du holst ein paar Hemden, Socken, Unterhosen aus dem Schrank.
Du kramst in der Schublade mit Landkarten und findest eine, auf der steht "Altmark", und du schätzt, die könnte passen.
Du füllst eine Plastikflasche mit Wasser.
Du ziehst die Fahrradtasche unter den Campingsachen hervor und stopfst alles hinein.
Du schiebst das Fahrrad aus dem Schuppen und hängst die Satteltasche an den Gepäckträger.
Du fährst über die Wiese hinterm Haus. Du fährst weiter durch die Felder gen Osten.

Du bist unterwegs nach Berlin.

Sonntag, 8. Oktober 2006

(4)

Am nächsten Abend ist unser Doppelkopf-Abend. Wir sind bei Hanne, und es ist schon ziemlich spät, als das Telefon klingelt.

"Hanne...", spricht Hanne in den Hörer?
"...!"
"Das geht nicht! Ich habe schon etwas getrunken. Und, hör zu, Heinrich, das geht generell nicht, ok?"
"-"
"Ok, du auch, tschüß."

Hanne legt den Hörer auf und dreht sich zu uns um:
"Das war Heinrich, dem die Gastwirtschaft gehört. Er sagte", und nun macht sie Heinrichs Redeweise nach: "Hier ist eine Frau Ingelore Sowieso, die möchte gern nach Hause gebracht werden."

...

Die Ampel ist rot, ich halte an. Am Rand des Bürgersteigs stehen zwei Kinder uns starren in den Rinnstein. Was gibt es dort zu sehen? Meine Augen folgen ihrem Blick und sehen das tote Eichhörnchen.

Die Kinder rühren sich nicht. In ihren Gesichtern lese ich: Unglauben, Entsetzen, Trauer, Unverständnis, Verwirrung, Angst, Mitgefühl, Verblüffung, Fragen, Schmerz, Neugier.

Einen Moment lang fühle ich das gesamte Leid der Welt.

Gib dem Schicksal eine Chance

"Kreisstadt im Lotto-Fieber" lautet die Schlagzeile unseres lokalen Blättchens.

All meine Nachbarn waren am Samstag noch in der Lotto-Annahmestelle und haben mir erzählt, wie lange sie warten mussten, und bis zu welcher Hausnummer die Schlange reichte.

Ich staune nicht, dass 35 Millionen verlockend sind. Aber um so mehr bin ich verwundert, dass eine einzige Million so viele Leute nicht lockt. Ich kann nicht erkennen, dass meine Nachbarn so anders situiert sind als ich - warum interessiert sie die eine Million nicht, die 35 aber sehr?

Spräche die Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht so hoffnungslos gegen mich, dann würde mich jedenfalls auch schon viel weniger als nur eine Million interessieren. So aber lässt mich die eine genau so kalt wie die 35. Ich bin die einzige aus dem Dorf die keinen Lottoschein abgegeben hat.

Dabei kann das Lottospiel durchaus rentabel sein, wenn man nur ein wenig bescheiden ist! Ich bin sehr zufrieden mit dem Lottospiel. Ich gewinne jede Woche. Meinen Einsatz. Indem ich nicht mitspiele. Wie teuer ist der Einsatz, zwei Euro?

Nun, dann habe ich in den letzten zwanzig Jahren schon über 20000 Euro gewonnen. Da kann man nicht meckern. Ich bin zufrieden.

Gib dem Schicksal eine Chance II

In dieses Café gehe ich echt nicht mehr. Nie hat man seine Ruhe. Immer sitzen irgendwelche Nervensägen am Nebentisch.
Heute sind's drei nicht mehr ganz junge Damen, denen noch jetzt im Oktober das nackte Hüftfleisch über den Jeansrand quillt und ein Mann, ebenfalls in Jeans, aber mit bedeckten Hüften.


Die drei Frauen beugen sich über eine Illustrierte. "Zeig mal her! Was steht bei mir! Lies mal vor! Ich bin Zwilling!"

"Sie werden eine neue Bekanntschaft machen, die frischen Wind in ihr Leben bringt."

"Ohhh! Die meinen Heinz, wetten? Den hab' ich am Wochenende in der Kneipe kennengelernt."

"Was hast'n du für'n Sternzeichen, Achim?"

"Ach lass mich doch in Ruhe mit die Scheiß Horoskope. Ich glaub da nich mehr dran. Immer steht da: Montag, toller Tag! Tolle Frau! Tolle Begegnung! Und was is dann Montag? Nix! Wieder nur im Bett gelegen vorm Fernseher!"

Sonntag, 1. Oktober 2006

Und dann (3)

Wir also alle um zehn ins Bett, schön geschlafen, und um eins wach' ich auf, weil Bonzo bellt. Verdammt, denk' ich, wer hat denn den Hund rausgelassen, und renne im Nachthemd auf die Straße. Da steht Ingelore aus dem Nachbardorf und hat gar keine Angst, obwohl Bonzo doch so ein Riesenkalb ist und sich wie wild gebärdet hat.

Du kennst doch Ingelore aus dem Nachbardorf, die in dem halbverfallenen Haus wohnt und selbst halb verfallen ist vom Alk? Ihr Mann ist Maler, aber der ist auch fertig vom Saufen. Da steht sie also nachts um eins vor meinem Haus, und hat so'n riesen Gemälde auf der Schulter, so ein mal ein Meter ungefähr und fragt mich: Kann ich mal telefonieren? Ich muss ma'n Taxi anrufen. Ich muss noch ein Dorf weiter, um das Bild abzuliefern.

"Ach Mensch", sag ich, "dann fahr' ich Sie einfach". Da hab' ich noch "Sie" gesagt, ich hatte ja noch nie was mit ihr zu tun gehabt. Ich hatte mein altes, total löcheriges Nachthemd an, hab' mir schnell ein paar Jeans übergezogen, die Lederjacke drüber - und die Pantoffeln hatte ich noch an.

"Wo wollen Sie denn das Bild abliefern um diese Zeit?" frag' ich sie unterwegs, damit wir nicht so nebeneinander im Auto sitzen und gar nichts sagen. "In der Kneipe", meint' sie.

"Die ist doch zu, da ist doch jetzt kein Mensch mehr!"
"Doch, da sind noch welche!" meint' sie, "die spielen noch Karten."

Wir kommen da an, alles dunkel, die Kneipe ist zu.

"Dann fahr' ich Sie eben jetzt nach Hause", hab' ich ihr angeboten, großzügig wie ich bin. Aber nee, nach Hause wollte sie nun gar nicht. Dann wollte sie lieber in die Stadt. Ok, hab' ich sie eben in die Stadt gefahren. Da kam's jetzt auch nicht mehr drauf an. Sie wollte unbedingt in diesen zwielichtigen Nachtclub. Aber erst sind wir noch sämtiche Tankstellen abgeklappert, bis wir eine gefunden hatten, die noch geöffnet hatte. Sie brauchte nämlich noch Tabak. "Soll ich Ihnen etwas Salzgebäck mitbringen?'" hat sie gefragt. Stell dir das mal vor! "Etwas Salzgebäck" hat sie gesagt!

Als wir dann endlich bei ihrem Nachtclub angekommen sind, fragt' sie mich doch, ob ich nicht noch eben mit reinkommen will, wo ich schon mal da bin. Und ich weiß auch nicht, ich bin ausgestiegen. Und da drinnen, da war noch richtig der Bär los. Die kannten Ingelore alle und haben sie alle mit großem Hallo begrüßt und uns gleich was zu trinken gebracht. Auf der Bühne so'ne junge Dame getanzt und Striptease gemacht. Bullig heiß war's, und ich zieh die Lederjacke aus, und da saß ich da in meinem Nachthemd mit den Löchern an der Schulter und am Busen! Ich hab' die Jacke so schnell ich konnte wieder angezogen.

Mensch Ama, da merkte ich erst, wo ich hineingeraten war! Ich saß da in so'nem verruchten Sex-Lokal oder was das ist, im Nachthemd voller Löcher, in Pantoffeln und ohne Unterhose! O Scheiße! Aber die Stimmung war echt gut, wir hatten enorm Spaß!

Um sechs war ich dann endlich wieder zu Hause und bin ins Bett gegangen, und um sieben habt mich meine Verwandtschaft geweckt. Sie können gar nicht verstehen, dass wir alle zusammen früh ins Bett gehen, und wenn wir wieder aufstehen, dann haben sie bloß geschlafen und ich jede Menge erlebt. Ich versteh' das auch nicht.

Hanne sprudelt los: (2)

Ich hab' das ganze Haus voll Besuch. Meine Geschwister sind gestern Abend gekommen, alle mit Kind und Kegel. Wir haben gegessen, und dann fingen sie alle so entsetzlich zu gähnen an. und die Kinder quengelten und greinten!

"Wir sind so müde, die Fahrt war so lang, die Woche war so anstrengend", und so weiter. Das Ende vom Lied: Statt Party lagen wir alle um zehn im Bett - sogar ich! Wo ich doch sonst nie vor zwölf ins Bett gehe!

Heute morgen standen sie alle schon um sieben auf der Matte, putzmunter, erholt und bestens ausgeschlafen. Das Haus vibrierte vor Leben. Die Kinder spielten schon im Flur Fußball, immer gegen den Gläserschrank.

Hanne hält in ihrer Erzählung inne und schenkt noch einmal Kaffee nach.

Diese schwarzen Ringe unter ihren Augen! Die passen gar nicht zu der Geschichte! So sieht doch kein Mensch aus, der um zehn Uhr ins Bett gegangen ist?

"Erzähl schon, was dann?" dränge ich. Sie sinkt schlaff rückwärts gegen die Stuhllehne, hält die Kaffeetasse mit beiden Händen und blickt glasig ins Leere.

"Ja, gleich", sagt sie und hebt versonnen die Tasse an die Lippen.

Freitag, 29. September 2006

Heim (1)

Wie ich vom Einkaufen wiederkomme, treffe ich Hanne. In meinem Haus. Sie sitzt da am Tisch und isst ein Stück von dem Apfelkuchen, den ich heute morgen gebacken habe. Frischer Kaffee dampft aus der Kanne. Das ist das Schöne, wenn man, wie ich, die Angewohnheit hat, das Abschließen der Tür zu vergessen: Man kommt nach Hause und wird erwartet und bewirtet, als käme man zu Besuch.

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