Freitag, 22. September 2006

16. Wieder er

"Und wieso heißt das Stunden?"

Die Stimme kommt aus dem Dunkel.
Die Sonne ist weg, ihr Blut ist im Boden versickert. Der weiße Mond ist weg, das Grau hat ihn hinuntergeschluckt. So ist es dunkel.

Wegewalli stellt sich wieder auf die Füße. Sie starrt ins Dunkel, dorthin, wo die Stimme gefragt hatte.

Sie kann nichts erkennen als die Schatten der Wälder. Aber sie kann sich gut vorstellen, wie Leser dort an einen Baum gelehnt steht, ein Bein angewinkelt, die Hände lässig in der Hosentasche.

"Das ist doch klar", sagt Wegewalli. "Der Weg ist so lang. Du gehst und gehst, und nichts passiert, nur die Stunden vergehen. Stunden und Stunden.

Und dann siehst du die Sonne verbluten und den Mond die Blässe verlieren, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Und dann hast du immer noch genau so viel Weg vor dir. Geradeaus. Stunden und Stunden."

Sie macht ein paar Schritte in die Richtung, in der der Mond verschwunden ist. Sie ruft über die Schulter: "Aber was geht's mich an? Bin ich hier etwa für Überschriften zuständig?"

15. Stunden

Sie ist unterwegs von Westen nach Osten seit vielen Stunden auf gerader Straße. Die Straße hat jemand schnurgerade in die unendlichen Wälder geschnitten.

Rechts und links türmt sich Grün und Dunkel. Mitten hindurch führt eine gerader Schnitt über den Grund. Wegewalli fühlt sich wie Mose, der durch das Wasser schreitet, das rechts und links vor ihm zurückgewichen ist.

Rote Farbe schiebt sie von hinten und fließt an ihr vorbei. Wegewalli schaut sich um. Sie erwartet zu sehen, wie sich rotes Wasser hinter ihr schließt. Aber nichts davon. Sie sieht die große rote Sonne am Ende der Straße, die blutig auf dem Anfang des Weges schmilzt.

Weiter.
Weiter nach Osten.
Zwischen den rosa Wölkchen erhebt sich über dem Ende der Straße ein kleines weißes Leuchten. Ein Licht liegt auf dem Weg. Es wird immer größer und steigt auf. "Eine Wolke", denkt Wegewalli. Wegewalli ist rational. "Eine kleine Wolke. Sie muss höher stehen als all die anderen rosa Wölkchen, so dass das klare Licht der Sonne sie noch von ihrem Versteck hinter dem Horizont erreicht, während die anderen so niedrig stehen, dass sie nur das Blutrot wiederspiegeln können."

Das Wolkenlicht wird größer und immer runder. Es verwandelt sich in den Mond, der sich zwichen die Rosawolken schiebt. Langsam befreit er sich von ihnen und steht nackt mit seiner weißen Haut da. Oben links über dem Ohr fehlt ihm ein Stück.

Wegewalli bleibt stehen. Das erste Mal seit vielen Stunden. Sie braucht eine neue Perspektive.

Sie macht einen Kopfstand und betrachtet den Mond.

Nun fehlt ihm unten ein Stück. Die Rosawolken verwandeln sich in Grauwolken. Grauwolken mit Wolfsgesichtern. Der weiße Mond lacht. Langsam steigt er hinab in das Grau und versinkt darin.

Und weg ist er.

14. Raum

Wegewalli geht. Sie hat keinen Zweifel, welche Richtung sie einschlagen soll. Sie isst Beeren vom Wegesrand und Obst. Sie geht, bis es dämmert, bis die Sonne untergeht, bis es dunkel ist.
Dann legt sie sich hin. Sie legt sich mitten unter die Milchstraße. Sie starrt in die Sterne. Sie entdeckt den Raum zwischen sich und der Milchstraße.

Diesen Raum nimmt sie sich.

13. Gebührenfrei

Wegewalli stellt sich auf die Füße und schüttelt sich die Halme von der Mütze. Ohne einen Gruß lässt sie Leser stehen und geht.

Wegewalli ist froh. "Ich habe ein Ziel", denkt sie. "Ich suche den Raum inmitten der Forderung."

"Welchen Raum?" schreit Leser hinter ihr her.

Wegewalli schaut sich um, ohne ihren Schritt zu verlangsamen: "Den Raum für mein Geschenk!" schreit sie zurück. Schon schaut sie wieder nach vorn und schreitet zügig voran. Ihre Füße finden von selbst einen Weg ohne nachzudenken.

"Ich werde weder meinen Namen noch irgendetwas anderes wie eine Gebühr entrichten. Ich habe doch so viele Geschenke", denkt Wegewalli zufrieden.

Der Rucksack auf ihrem Rücken ist zusammengefallen und faltig als enthielte er nicht einmal ein Butterbrot.

12. Drei

Sie blinzelt. Sie sieht Tautropfen am Gras dicht vor ihren Augen. Dahinter sieht sie Stiefel. Sie schaut die Stiefel hinauf, die Beine hinauf, dem Bauch, Brust, Kinn, bis zu den Augen. Die schauen sie an, von oben herab.

"Wie heißt du?"

Die Frage klingt fordernd.

Wegewalli setzt sich auf. "Wegewalli." Sie gibt ihren Namen preis wie eine Bezahlung, nicht wie ein Geschenk. Die Forderung lässt ihr keinen Raum für Geschenke. Darum setzt sie trotzig hinzu:

"Und du?"

"Leser", sagt Leser. Sein Name erklingt auch nicht wie ein Geschenk; eher wie eine Bedrohung oder eine Verheißung. Wegewalli ist sich nicht sicher.

"Wer ist der Erzähler?" fragt Leser wie in einem Verhör.

"Der Erzähler ist der, der uns erzählt", antwortet Wegewalli gehorsam. Sie ärgert sich. Mit Gehorsam und Reaktion wird sie ihren Weg gewiss nicht finden.

11. Richtung

"Wenn ich mich hier an diesem Platz nicht einrichten mag oder kann oder will, dann muss ich weitergehen", sagt sich Wegewalli. Sie wendet sich nach Osten und geht dem Morgenlicht entgegen.

Dem Sonnenaufgang entgegen.

Der am Himmel stehenden Sonne entgegen.

Dem Sonnenuntergang entgegen.

Dem beleuchteten Horizont im Norden entgegen.

So langsam wie die Sonne sich bewegt, ändert sie ihre Richtung. Schließlich kommt sie dort an, wo sie am Morgen losgegangen ist.

Sie legt sich auf den Boden und schläft.

10. Flüchtig

Im Morgengrauen löst sich das Ziel auf. Nichts bleibt im Norden. Der rote Schimmer taucht nun im Osten auf.

Wegewalli bleibt stehen.

Früher einmal hatte ihr Erzähler behauptet: "Der Weg ist das Ziel". Wegewalli mutmaßt, dass das nicht einmal seine eigene Idee war. Es hatte sich so schlüssig und weise angehört. Nun zweifelt sie. Sie erkennt:

Für Menschen ohne Boden unter den Füßen hat diese Weisheit keine Gültigkeit.

9. Schon wieder ein Ziel

Wegewalli steht auf und geht Richtung Norden, dorthin, wo das Licht des Sonnenuntergangs den Horizont glühen lässt.

8. Klein

Während die Waschmaschine rumpelt, sitzt Wegewalli auf der Treppenstufe vorm Haus und schaut in die Dämmerung. Die Ellenbogen hat sie auf die Knie gestützt, den Kopf in die Hände. Wegewalli denkt nach.

Wie banal müssen die Ziele sein, die auf einem großen Weg liegen?

7. Schon ein Ziel erreicht

Die Schublade ist leer.
Was liegt näher als dass die Kleidungsstücke verlangen ordentlich gefaltet in die Schublade gelegt zu werden?
Zuerst aber müssen sie gewaschen werden, denn Kleidungsstücke haben für gewöhnlich das Verlangen, gewaschen, gebügelt und gefaltet in Kommoden zu liegen.
Wo ein Wille ist, ist auch eine Waschmaschine.

6. Unterwegs

Sie wendet sich nach Süden. Sie geht los. Sie findet eine Treppe, die sie hinaufsteigt.
Dort oben stößt sie auf einen Berg Kleider und eine Kommode.
"Tu immer das Nächstliegende", sagte Wegewallis Erzähler früher einmal.
"Tu das Nächstliegende", wiederholt Wegewalli nun und zieht die zweitunterste Kommodenschublade auf.

5. Unentschlossen

Noch einmal schaut Wegewalli in alle Himmelsrichtungen und dreht sich dabei um sich selbst.
"Es ist zum Haareraufen", seufzt sie.
Für manch einen Schlenker des Schicksals ist sie gerüstet. Sie zieht eine Schirmmütze aus der hinteren Hosentasche und setzt sie auf.Die sollte sie vor der Sonne schützen, wenn sie unterwegs ist und vor Regen. Die soll auch andere vor dem Anblick ihrer Schmucklosikeit schützen.
Die Haare kennen den Weg, den sie gehen wollen. Wegewalli nicht.

4. Aufgeschlossen

Wegewalli lässt sich dann und wann von ihrem Erzähler beeinflussen. Sie hält inne.
Sie schaut nach Osten, nach Norden, nach Süden, nach Westen.
Wohin soll sie gehen? Es gibt überall schöne Ziele.
Welches ist ihres?

3. Tatsache

Wegewalli hat keinen Brunnen, kennt keinen Brunnen und läuft immerzu im Kreis um keinen Brunnen herum.
Wegewalli, nennst du das ziellos, wenn du in jedem Augenblick deinen Ausgangspunkt zum Ziel machst?
"Da wo ich jetzt bin, will ich wieder hin", ist das deine Strategie, Wegewalli?

2. Und wenn nicht?

Hast du aber keinen Brunnen und kennst du keinen Weg und weißt du kein Ziel, dann bist du aufgeschmissen.
Hast du dann die Möglichkeit, dich einfach niederzulassen, wo du bist und zu beschließen: Du bist angekommen? Wirst du dann anfangen, dich an Ort und Stelle einzurichten?
Oder wirst du einen Fuß vor den anderen setzen und unterwegs sein, bis nicht du beschließt, angekommen zu sein, sondern du merken wirst: Jetzt ist es soweit. Hier bin ich angekommen, hier bin ich die, als die ich gemeint bin, hier habe ich die Aufgaben, die schon vor meiner Existenz auf mich gewartet haben?

1. Heim

Wenn du einen Brunnen hast vor dem Haus, dann ist alles kein Problem. Dann kannst du wandern, immer um den Brunnen herum, immer rum, so lange und so weit du willst. Denn einen Brunnen zu umwandern kann nur heilsam sein. Wo sollte dich der Weg hinführen, wenn nicht zu deinen Quellen?
Also, wohne in einem Haus mit einem Brunnen vor der Tür, und du brauchst dir über deinen Weg keine Gedanken mehr zu machen.

Donnerstag, 21. September 2006

Sonne auf's Hirn

Sonne auf's Hirn

Die mittägliche Sonne der Sahara hat sich in meinen Septembergarten verirrt. Wie hat sie das gemacht?

Meine letzte Nacht war feucht und fröhlich und sehr kurz. Und nun versuche ich eben schnell die Teilnehmerliste am Gartentisch abzuschreiben, die ich heute Abend zum Treffen mitbringen will. Das wird wohl selbst unter miserabelsten Bedingungen zu schaffen sein.

Der erste Name, Geburtsdatum... lustig, es stimmt exakt mit meinem eigenen überein. Zweiter Name, Geburtsdatum.... merkwürdig, Nummer Zwei hat mit meinem Sohn zusammen Geburtstag! Dritter Name, mit wessen Geburtstag stimmen diese Daten überein? Na also! Ein ganz alltägliches, nichtssagendes Datum, kein Mensch aus meiner Sippe oder meinem näheren Freundeskreis hat an diesem Tag Geburtstag! Geht doch! Ich hatte mir schon eingebildet, ich würde magisch verfolgt von magischen Zahlen!

Vierter Name, selbes Geburtsdatum wie Nummer drei. Nie wieder schreibe ich in der Sonne mit Kater eine Liste ab! Ich werde mich sonst womöglich mein Leben lang vor Zahlen fürchten! Die verfolgen mich, um mich zu verwirren!

Nein, Entwarnung, alles klar, Nummer drei und Nummer vier sind Zwillinge.

Ich entspanne mich wieder. Wie kann ich mich wegen Geburtsdaten so aus der Ruhe bringen lassen? Lächerlich!

Fünfter Name. Das Geburtsdatum... ist das gleiche wie von Drei und Vier. Drillinge?

Ich klappe das Notizbuch zu, ich falte den Zettel mit den ersten fünf Namen zusammen, dass ich keine einzige Ziffer mehr sehen kann.

Ich gehe zu Bett.

Bevor ich je wieder versuche, eine Teilnehmerliste abzuschreiben, werde ich die Kabbala studieren!

Gute Nacht, Mittagssonne!

Schöner Italiener

"Lass uns essen gehen. Lass uns zum schönen Italiener", meint meine Freundin Hanne.

"Lass uns doch mal woanders hingehen", murre ich. "Seit mindestens 10 Jahren gehen wir ausschließlich dorthin."

"Na und? Der ist doch nett, das Essen schmeckt, oder etwa nicht, und er ist doch wirklich schön. Der schönste Mann, den ich kenne." Sie schwärmt zum tausendsten Mal: "Diese schwarzen Haare und dazu blaue Augen, das ist doch was Besonderes! Und diese goldene Haut. Und ich hab' noch nie einen Italiener gesehen, der so groß ist. Der ist doch echt groß, bald eins neunzig, schätze ich. Das hat man nicht oft bei Italienern. Uns so breitschultrig!"

Zwanzig Minuten später sitzen wir im Lokal. Es heißt allerdings nicht "Zum schönen Italiener", sondern "Da Giovanni", wie alle. Hanne ist schon emsig dabei, dem Schönen klar zu machen, was sie bestellen möchte:

"Zwei Bier!" Zum besseren Verständnis hält sie zwei Finger in die Luft. "Zwei Bira, zwei!" ruft sie laut und deutlich und schwenkt zur Verdeutlichung noch einmal nachdrücklich die Hand, von der zwei Finger senkrecht abstehen. Der schöne Italiener weicht dezent ein wenig zurück, damit sie nicht in seinem Nasenloch hängen bleiben.

"Zwei Bier, ok. Was darf ich zu essen bringen?"

Hanne macht ihm in schlichten, deutlichen Worten klar, was wir zu speisen wünschen.

Die Nudeln schmecken wie immer, wir plaudern wie immer und Hanne wirft ab und zu einen Blick über die Gabel dem schönen Italiener hinterher. "Er und Giovanni sind seit Jahren ein Paar, wusstest du das? Ich nicht, hab' ich nie gemerkt", meint Hanne. "Ein Jammer", seufzt sie.

Wir wollen zahlen. "Ich lad' dich ein", meint Hanne und kramt in ihrer riesigen Handtasche nach der Geldbörse. Wie immer lässt sie sich nicht so ohne weiteres finden. Sie packt einiges auf den Tisch, um mehr Übersicht zu bekommen. Ein Stapel Prospekte von den Grünen für die Wahl vergangenen Sonntag ist dabei. Ich staune immer wieder über die Unergründlichkeiten von Hannes Handtasche.

"Die grünen hab' ich diesmal auch gewählt", meint der schöne Italiener, während er Hannes Schein entgegen nimmt,
und fängt an uns einen Vortrag über erneuerbare Energien zu halten. Hanne und ich sind Profis auf dem Gebiet, aber der Italiener weiß noch weit mehr als wir. Hanne starrt mich irritiert an und verliert nach und nach ihre Farbe im Gesicht.

"Ich muss den an der Kasse wechseln", meint der schöne Italiener endlich und verschwindet mit dem Schein zur Theke.

"Was der alles weiß," flüstert meine Freundin Hanne fassungslos. "So was weiß doch ein Italiener nicht. Das weiß ja nicht mal ich
alles. Und...." Hanne wird noch ein wenig blasser. "Der kann ja deutsch!"

"Allerdings. Er spricht akzentfrei deutsch", bestätige ich.

"Ach du Scheiße, wieso ist mir das noch nie aufgefallen all die Jahre?" flucht Hanne, und ihr Gesicht nimmt nun eine rötliche Färbung an. Aber Hanne wird mit jeder Situation fertig im Leben. Als er mit dem Wechselgeld wiederkommt, fragt sie schon wieder ganz locker: "Du kannst aber gut deutsch, woher kommst'n du?"

Er lacht. "Ich komm' aus Steindorf, so wie du."

"Nein!"

"Doch. Mein Vater ist Andreas Lehmann, mit dem du in deiner Jugend bei den Kommunisten herumgehangen hast. 1988 hab' ich Abi gemacht an der selben Schule wie du und mein Alter, und seitdem bin ich hier bei Giovanni."


Ich glaube, ich habe gute Chancen am nächsten Wochenende mit meiner Freundin beim Inder essen zu gehen.

Dienstag, 4. April 2006

Tante Josefines Erbe

Vor zwei Jahren nun starb Tante Josefine.
Wir waren alle überrascht, zum einen, weil klar wurde, dass sie nicht wirklich die Tante Josefine von uns allen war, zum anderen, weil herauskam, dass sie eine beeindruckende Geldsumme auf ihrem Sparbuch bei der Volksbank angesammelt hatte. Genau genommen war sie nur Ewalds und Hannelores Tante gewesen, und die beiden erbten das Geld. Sie machten das erste Mal in ihrem Leben einen richtigen Urlaub, eine vierwöchige Kreuzfahrt. Der Rest wurde ausgegeben für exklusive Materialien, mit denen ihr Häuschen aufs edelste renoviert werden sollte: Parkettholz, italienische Fliesen, Designertapeten. Zunächst sah alles nur aus wie Gerümpel, das sich in der Veranda und in der Stube stapelte. Und so blieb es für zwei Jahre.

Nun aber ist Ewald seit einigen Wochen arbeitslos und die Hausrenovierung ist fast abgeschlossen. Nur von der teuersten Tapete, die das Dorf je gesehen hat, fehlt ein wenig. Designertapete. Ich hatte übrigens gedacht, es sei eine Blümchentapete, aber dieses Wort werde ich nie wieder in Ewalds und Hannelores Gegenwart benutzen.

Diese Designertapete war nirgends mehr aufzutreiben, weder in den lokalen Fachgeschäften noch in den Großstädten oder im Internet. Davon lassen sich die Bauherren keinen Strich durch die Rechnung machen. Gestern war die ganze Familie dabei, den nackten Putz über dem Ölofen mit Designertapetenmuster zu bemalen - mit den Buntstiften der Kinder.

Heute, beim Einweihungskaffee mit selbstgebackenen Torten konnten wir das Ergebnis bewundern. Am allergelungensten finde ich das Stück Wand über dem Ölofen. Vielleicht renoviere ich mein Haus auch bald. Es gibt noch einen ganzen Schuhkarton voller Buntstifte von den Kindern auf dem Dachboden.

Tante Josefine

Vor zwei Jahren ist Tante Josefine gestorben – nicht meine Tante Josefine, sondern die Tante Josefine des ganzen Dorfes, die in Meyers Kate wohnte, einem Zwei-Zimmer-Fachwerkhäuschen mit Hexengärtlein. Tante Josefine hat bis in ihre neunziger Jahre bei Bauer Meyer beim Rüben Hacken ausgeholfen und beim Backen und Kochen zu den Familienfeiern. Sie hat die kranke Kuh besprochen, so dass sie wieder gesund wurde, und wenn ein Huhn schwächlich wirkte und einen trüben Blick bekam, den nur sie erkannte und zu deuten wusste, dann schnappte sie sich das Huhn, klemmte es sich unter den Arm und holte mit den Fingern das Ei aus ihr heraus, das schon vor dem Legen im Huhn zerbrochen war und normalerweise das Todesurteil für jedes Huhn ist. „De Höuner brukt mehr Kalk!“ murrte sie dann vorwurfsvoll, und das Huhn erholte sich schlagartig.

Sonst sprach Tante Josefine nicht viel. Nur: „pile pile pile“ zu den Enten, „kum kum kum“ zu den Kühen und „put put“ zu den Hühnern. Wenn sie ihren gesprächigen Tag hatte, sagte sie auch schon mal „put put Höuniken“ zu ihnen. Der Hofhund hörte auf ihre Handzeichen oder ihre Gedanken.

Niemand im Dorf brauchte sich Sorgen um ihren Lebensunterhalt zu machen, und ob sie wohl Rente bekäme. Tante Josefine lebte von dem, was Bauer Meyers Hof und ihr eigenes Gärtlein abgaben, und einen Lohn für das Rübenhacken würde sie wohl auch bekommen. Bauer Meyer war verantwortlich dafür, dass jemand, der so lange zu Haus und Hof gehörte sein Auskommen hatte. So war es von Alters her geregelt, und in einem Dorf wie unserem hatten diese alten Gesetze viel mehr Gewicht, als solche, die unter irgendwelchen Paragraphen nachzulesen waren.

Dienstag, 21. März 2006

Hinter dem Horizont

Die Löcher in der Schneedecke werden stündlich größer. Gräben schwellen zu brodelnden Bächen an. Immer mehr Erde kommt in den Schneelöchern zum Vorschein: Braune und schwarze Ackerfurchen, grüne Wintergerste, graue Gräserflächen, ockergelbes Schilf. Dazu Feldwege, Misthaufen, Böschungen, niedriges Gestrüpp. Ich bin überrascht von den bunten Strukturen der Landschaft als hätte ich mein Leben lang nur strukturloses Weiß gesehen.

Der milde Westwind hat eingesetzt.
Die Kraniche sind noch da. Immer wieder schweben neue Grüppchen heran, Diagonalen und Einsen im Sinkflug, und lassen sich auf der Wiese nieder. Weit über hundert silbergraue Statuen verharren dort - mal aufgeregt diskutierend, mal schweigend. Die Nächte sind still, die Sonnenaufgänge laut und aufgeregt. Noch sind es die "wir bleiben!"-Rufe, die energisch und durchdringend klingen. Noch klingt der "wir starten"-Gesang zaghaft, aber er nimmt an Kraft zu, und bald wird er die Menge aufscheuchen, in die Höhe und gen Osten treiben. Die Könige und Königinnen werden mit entschlossen vorgestreckten Hälsen dem Frühling und ihren Brutgebieten entgegen fliegen.

Dann wird ein tiefes Schweigen zurückbleiben, eine Stille, die dem Wiedererwachen den Raum gibt, ihre Keime und Knospen hineinzutreiben und zum Bersten zu bringen in Farben, Düften und Klängen.

Freitag, 17. März 2006

Königs-Winter

Hinter meinem Haus in nur geringer Entfernung hat sich vor ein paar Tagen, als der Winter mit ungeheurer Macht zurückkam, ein Riesenschwarm Kraniche niedergelassen und wartet auf Westwind und mildere Temperaturen zum Weiterziehen. Ganze Tage das laute Geschrei dieser königlichen Vögel im Ohr zu haben betört das Gemüt und verwirrt die Sinne. Ich weiß nicht mehr, wie ich den Schnee finden soll, und ob man sich Sorgen um die Könige und Königinnen machen muss.

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Zuletzt aktualisiert: 17. Mai, 16:30

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