Dienstag, 4. April 2006

Tante Josefines Erbe

Vor zwei Jahren nun starb Tante Josefine.
Wir waren alle überrascht, zum einen, weil klar wurde, dass sie nicht wirklich die Tante Josefine von uns allen war, zum anderen, weil herauskam, dass sie eine beeindruckende Geldsumme auf ihrem Sparbuch bei der Volksbank angesammelt hatte. Genau genommen war sie nur Ewalds und Hannelores Tante gewesen, und die beiden erbten das Geld. Sie machten das erste Mal in ihrem Leben einen richtigen Urlaub, eine vierwöchige Kreuzfahrt. Der Rest wurde ausgegeben für exklusive Materialien, mit denen ihr Häuschen aufs edelste renoviert werden sollte: Parkettholz, italienische Fliesen, Designertapeten. Zunächst sah alles nur aus wie Gerümpel, das sich in der Veranda und in der Stube stapelte. Und so blieb es für zwei Jahre.

Nun aber ist Ewald seit einigen Wochen arbeitslos und die Hausrenovierung ist fast abgeschlossen. Nur von der teuersten Tapete, die das Dorf je gesehen hat, fehlt ein wenig. Designertapete. Ich hatte übrigens gedacht, es sei eine Blümchentapete, aber dieses Wort werde ich nie wieder in Ewalds und Hannelores Gegenwart benutzen.

Diese Designertapete war nirgends mehr aufzutreiben, weder in den lokalen Fachgeschäften noch in den Großstädten oder im Internet. Davon lassen sich die Bauherren keinen Strich durch die Rechnung machen. Gestern war die ganze Familie dabei, den nackten Putz über dem Ölofen mit Designertapetenmuster zu bemalen - mit den Buntstiften der Kinder.

Heute, beim Einweihungskaffee mit selbstgebackenen Torten konnten wir das Ergebnis bewundern. Am allergelungensten finde ich das Stück Wand über dem Ölofen. Vielleicht renoviere ich mein Haus auch bald. Es gibt noch einen ganzen Schuhkarton voller Buntstifte von den Kindern auf dem Dachboden.

Tante Josefine

Vor zwei Jahren ist Tante Josefine gestorben – nicht meine Tante Josefine, sondern die Tante Josefine des ganzen Dorfes, die in Meyers Kate wohnte, einem Zwei-Zimmer-Fachwerkhäuschen mit Hexengärtlein. Tante Josefine hat bis in ihre neunziger Jahre bei Bauer Meyer beim Rüben Hacken ausgeholfen und beim Backen und Kochen zu den Familienfeiern. Sie hat die kranke Kuh besprochen, so dass sie wieder gesund wurde, und wenn ein Huhn schwächlich wirkte und einen trüben Blick bekam, den nur sie erkannte und zu deuten wusste, dann schnappte sie sich das Huhn, klemmte es sich unter den Arm und holte mit den Fingern das Ei aus ihr heraus, das schon vor dem Legen im Huhn zerbrochen war und normalerweise das Todesurteil für jedes Huhn ist. „De Höuner brukt mehr Kalk!“ murrte sie dann vorwurfsvoll, und das Huhn erholte sich schlagartig.

Sonst sprach Tante Josefine nicht viel. Nur: „pile pile pile“ zu den Enten, „kum kum kum“ zu den Kühen und „put put“ zu den Hühnern. Wenn sie ihren gesprächigen Tag hatte, sagte sie auch schon mal „put put Höuniken“ zu ihnen. Der Hofhund hörte auf ihre Handzeichen oder ihre Gedanken.

Niemand im Dorf brauchte sich Sorgen um ihren Lebensunterhalt zu machen, und ob sie wohl Rente bekäme. Tante Josefine lebte von dem, was Bauer Meyers Hof und ihr eigenes Gärtlein abgaben, und einen Lohn für das Rübenhacken würde sie wohl auch bekommen. Bauer Meyer war verantwortlich dafür, dass jemand, der so lange zu Haus und Hof gehörte sein Auskommen hatte. So war es von Alters her geregelt, und in einem Dorf wie unserem hatten diese alten Gesetze viel mehr Gewicht, als solche, die unter irgendwelchen Paragraphen nachzulesen waren.

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